Mit Paulo Coelho de Souza ist 1947 in Rio de Janeiro ein literarisches Talent geboren, das bestimmt war, der Welt eine neue Perspektive auf den Wert Lebens zu schenken. Schon in jungen Jahren entwickelte sich Coelho entgegen der Vorstellungen seiner streng katholischen konservativen Eltern in die künstlerische Richtung. Seinem literarischen Talent verlieh er zunächst durch die Lyrik und später auch durch das Drehbuchschreiben Ausdruck. Doch die zunehmende Entfernung von den Wertvorstellungen seines Elternhauses führte dazu, dass sie Coelho immer weniger Verständnis entgegenbrachten und so wiesen sie ihn insgesamt drei Mal in eine psychiatrische Anstalt ein. Sämtliche Lebenserfahrungen Coelhos spiegeln sich unverwechselbar im seinen Werken wieder, wie beispielsweise seine spirituellen Reisen und Entdeckungen einen großen Teil des Buches „Der Alchimist“ ausmachen. Es ging mit den enormen Verkaufszahlen ins Guinnessbuch der Rekorde ein. Aber auch seine teils traumatische Bekanntschaft mit psychiatrischen Anstalten und deren unmenschlichen Behandlungsmethoden wie Elektrokonvulsionstherapie* verarbeitet er auf kreative Weise in seinem Werk „Veronika beschließt zu sterben“. Man findet ihn in unterschiedlichen Charakterzügen und Lebenserfahrungen der Buchfiguren wieder.
Das Werk handelt von einer jungen Frau namens Veronika, die alle erdenklichen Vorraussetzungen für ein vielversprechendes Leben besitzt und dennoch beschließt, sich das Leben zu nehmen. Doch dieser Versuch schlägt fehl und sie findet sich, mit der Prognose noch fünf Tage zu leben, im Warteraum des Todes wieder. Gestellt wurde diese Prognose von Dr. Igor, dem Leiter der Einrichtung „Vilette“, welcher jegliches unmenschliches Verhalten mit seinem wissenschaftlichen Genie rechtfertigt. Veronika ist durch den Aufenthalt in der Psychiatrie gezwungen, aus ihrer Routine auszubrechen und schafft es, sich von den benebelnden Vorgaben unserer Gesellschaft zu befreien. Sie hat nichts zu verlieren und traut sich erstmals, sich mit ihren dringendsten Wünschen und tiefsten Bedürfnissen auseinander zu setzen. So gerät sie in den tragischen Zwiespalt, die lebenswerten Aspekte ihres wahren Ichs zu entdecken und diese neue Version ihrer selbst dennoch nicht leben zu können, da sie laut Dr. Igor dem Tod geweiht ist. Paradoxerweise macht er ihr mit diesem quälenden Gedanken das größte Geschenk überhaupt: Sie lebt jeden Tag, als wäre es ihr letzter. Mit dem angeblich wachsenden Sterberisiko wächst nicht nur ihr Lebenswille, sondern sie gibt auch den anderen Insassen eine zweite Chance. Sie führt sowohl die Insassen, als auch die Leser zu einer fundamentalen Hinterfragung ihrer Selbst, dadurch dass sie die Präsenz des ungewollten Todes in ihr Bewusstsein drängt.
Eine ebenso zentrale Rolle in dem Roman spielt die Relativität des Verrücktseins. Wen bezeichnen wir aus welchem Gründen als verrückt und woher wissen wir, dass nicht wir die Verrückten sind? Ein Verrückter zu sein ist laut Coelho in der heutigen Zeit meist gleichbedeutend mit anders sein, nicht der Regel entsprechen. Jene sind im Gegensatz zu den „Verbitterten“ in der Lage, ihren Willen frei auszuleben und sich nicht an das vernichtende Regelwerk unserer Gesellschaft zu halten. Doch ein Großteil von uns, die „Verbitterten“, bauen aus Angst vor der Realität eine Mauer, um sich vor möglichem Leid zu schützen. Die wahren Wünsche, in der scheinbar undurchbrechbaren Mauer gefangen, sind abgeschottet von allen Leidenschaften (seien es Hass oder Liebe). Wir entwickeln eine Gleichgültigkeit, die lähmender ist als jeder erdenkliche Misserfolg, vor dem wir uns so sehr versucht haben zu schützen. Und doch sehen wir uns in der Lage diejenigen, die den Mut haben, sie selbst zu sein, als verrückt zu bezeichnen. Das Bild, das Coelho zeichnet, ist unmissverständlich: Die frei Lebenden, die dem stupiden Alltag das Abenteuer vorziehen, sind eingesperrt hinter den Mauern Viletts. Jene Mauern, die wir aus Angst errichtet haben, um uns vor der verbitterten Außenwelt zu schützen, die wir Realität nennen. Doch Veronika schafft es, den Mut zu finden, diese Mauern zu überwinden und ungefiltert der Realität mit all ihren Wünschen und Hoffnungen zu begegnen. Sie flieht aus Vilette und schenkt der Realität etwas mehr Verrücktheit. Veronika ist ein Vorbild für diejenigen unter uns, die sich nicht trauen, ihre Mauern zu überwinden und mit der richtigen Prise Verrücktheit ins Leben zu gehen. Was hindert uns daran, dieselbe Hemmungslosigkeit an den Tag zu legen? Was sagt es über unser gesellschaftliches Regelwerk aus, wenn der Tod auf der Matte stehen muss, damit wir in der Lage sind, unseren eigentlichen Willen zu entdecken und auszuleben?
Dieses philosophische und gesellschaftskritische Werk hat trotz des unscheinbaren Volumens eine ungeheure Wucht. Meiner Meinung nach ist Coelhos intensive Art, seine Gedanken und Erfahrungen zu vermitteln, einzigartig und Pflichtlektüre für jeden literarisch Interessierten. Um die Komplexität des Werkes analytisch vollständig zu begreifen, würde ich dazu raten, es ab einem ungefähren Alter von 16 Jahren zu lesen. Ich kann nur hoffen, dass dieses Buch Gegenstand des Unterrichts wird, da niemandem der Einblick in Coelhos Welt verwehrt bleiben sollte.