Ich wusste bereits, dass dieser Tag ein Unglückstag werden würde, als ich von seinem Wecker so überraschend geweckt wurde, dass ich versehentlich von meinem Sitzsack plumpste, auf dem ich die letzte Nacht verbracht hatte, weil er noch eine Englischhausarbeit zu Ende stellen musste.
Dabei riss ich unabsichtlich meine Arbeit vom Tisch, welche zusammen mit mir, meinem gestrigen Abendessen – einer Kürbissuppe, die meine Mutter gemacht hatte – und einem ordentlichen Schwall frisch gewaschener Klamotten zu Boden rauschte. Dort blieb sie in einem schönen Orangeton gefärbt liegen.
Fluchend richtete ich mich auf und rieb mir die schmerzende Stirn. „Aaauu…“, murmelte ich und sah mich mit mitleidserregendem Blick nach jemandem um, der von meinem kleinen Unglück gerührt war.
Man hätte Grillen zirpen hören können.
„Dann halt nicht“, murrte ich missgelaunt.
Um das kurz zu erklären: Wenn ich weniger als sieben Stunden geschlafen hatte, dann war ich IMMER schlecht gelaunt. Hatte ich nur sechs Stunden geschlafen, war ich bereit, sogar dieses grauenhafte Gebräu Namens „Kaffee“, zu trinken – ein Getränk, dass die Menschheit erfunden hatte, damit sie sich zu Tode arbeiten konnte, wie ich meine.
Keine Zehn Minuten später schlurfte ich aus dem Bad, ein erstklassiges Teenager-Zombiegesicht aufgesetzt und mit noch schlechterer Laune als vorher, weil die allerliebste beste Freundin meiner großen Schwester meine Zahnbürste benutzt hatte.
Ich tappte durch den engen Flur, der von den privaten Räumen zu unserem Küchen-Fernseh-Esszimmer ging, wo bereits meine Eltern standen und in eine Kamera quatschten, was sie Amaia (meiner großen Schwester, die was das an ging ziemlich faul war), Noah und Sasha heute für tolle Klebezettelchen, Textmarker, Hefte und solch einen Krimskams packten, und welche herzallerliebsten Sprüchelchen sie auf diese süßen Kärtchen für uns alle schreiben würden, die übrigens von irgendeiner Marke waren, und weil das ja so Täfelchen waren, waren die natürlich voll toll wiederverwendbar, biologisch abbaubar, vegan, aus nur natürlichen Stoffen und soo gut für die Umwelt und man fände sie übrigens in der Infobox, nur so als Hilfe.
„Und natürlich, meine lieben, haben wir auch extra einen Code für euch“, verkündete meine Mama gerade und sah dann gekünstelt erwartungsvoll in Papas Richtung. „Und der lautet, Nathan…?“
„Genau“, meinte Papa, guckte sie kurz verunsichert an. „Äh, der lautet… TeNaBa19, für 19% Rabatt bei euren Einkäufen! Und der gilt bis zum 19.11 auf ALLE Produkte, also beeilt euch lieber“, schloss er und machte eines dieser übertriebenen Zwinkern, von denen alle Menschen im Raum Gänsehaut vor Fremdscham kriegen.
„Mach mal Pause“, ordnete Mama an.
Sie beugte sich nach vorne, hantierte irgendwie an der Kamera herum und drehte sich dann zu mir um. „Was machst du noch hier, Kay?“, fragte sie mich.
„Wir haben heute erst ab der Dritten“, log ich. „Wie viel Uhr ist es denn?“
„7:29“, antwortete Papa. „Lass uns noch kurz unseren Clip zu Ende drehen, dann-“
Den Rest hörte ich gar nicht mehr. Ich setzte mich verdächtig schnell mit großen Schritten in Richtung meinen Schulranzens, packte wahllos irgendwelche Zerknitterten Hefter, Stifte und Blätter ein, stopfte ein paar Bücher in meinen Ranzen, schnappte meinen Fahrradhelm und war aus der Tür raus, bevor meine Eltern mich darauf hinweisen konnten, dass es draußen seehr, seehr nass war.
Als ich zwei Minuten später pitschnass von meiner Mutter reingelassen wurde, war meine Laune auf einem neuen unterdimensionalen Tiefststand. Schnell witschte ich in die Wohnung und drängte mich an ihr vorbei zum Jackenständer
„Hör mal, Kay“, begann sie, doch ich schnappte mir nur schnell eine Jacke vom Hacken, drehte mich wieder um und war schon halb zu Tür raus, als ich merkte, dass meine Wahl leider nicht die Wasserdichte Ernste-Gespräche-Vermeider-Jacke war, die sonst immer griffbereit am Haken hing.
„Wo ist…?“, wandte ich mich an Terra Barrels.
Ein großer Fehler.
Auf Moms Gesicht erschien ein glückliches Grinsen, mit dem sie mich nun erstaunlich kräftig am Arm packte. Mit einer Geschwindigkeit und Energie, die ich ihr gar nicht zugetraut hätte, schleifte sie mich zu Ihrer „Garderobe“; einem eigenen ziemlich großen, beleuchteten Raum, in dem sie und mein Vater gemeinsam ihre XXL-Irgendwas-Hauls drehten; Kleidung, unnütze Dinge, unnütze lustige Dinge, billige Kleidung, unnütze hässliche Dinge, Sportkleidung, unnütze erstaunliche Dinge die niemand braucht, Biokleidung, unnütze erstaunliche Dinge die unfassbar teuer sind, niemand braucht aber wir trotzdem haben – und Schmuck.
Dort wurde ich innerhalb von ganzen 23 Sekunden mit einer riesigen, glitzernden Silberjacke, einer XXL-Bergsteigerhose in Pink-grün-braun ( die mir über meine Jogginghose gezogen wurde) und einem winzigen Hut in Form eines Kürbisses ausgestattet.
Zum Glück schaffte ich es zu flüchten, bevor ich eine Krakenkrawatte und einen Makeover verpasst bekam.
Als ich dieses Mal episch mit meinen hastig geschnappten Rucksack aus der Tür stürmte und Papa mir was von „Lächeln bringt gute Noten!“ hinterherschwadronierte, war es mir egal, dass die Billigjacke keine Kapuze hatte. Zumindest hielt sie ganz okay.
Was nicht so „okay“ war, war der Bus, der mich keine zwanzig Sekunden später auf der vollen Breitseite mit Wasser vollspritzte, während der liebreizende Fahrer einem Autofahrer vor sich beinahe in die Stoßstange bretterte. Alles, was jedoch passierte, war, dass ich eine kostenlose dreckige Dusche erhielt und der Busfahrer stumm ausrastete und den Kopf gegen die Fensterscheibe schlug.
Zum Glück ist nichts passiert!, dachte ich, denn auf eine kostenlose Behandlung per Akkupunktur hatte ich nicht besonders Lust. Außerdem wäre „Tod durch Fensterscheibe“ eine ziemlich blöde Art und Weise gewesen, sich aus dieser Welt zu verabschieden.
Aber zurück zum Wesentlichen: da mein Bus (leider, leider) keine Anstalten machte, für mich noch mal umzudrehen, beschloss ich, ganz einfach die nächsten 1-3 Stationen zu laufen – dumm rumstehen kann man überall. Also außer unter Wasser. Und wenn man vom Himmel fällt.
Während meine Beine sich also in Bewegung setzten, hörte ich von irgendwoher eine Fahrradklingel.
Eine Fahrradklingel, wie nur eine Person dieser Welt sie haben konnte.
Sie klang so schief und misstönend, als versuche man einen Esel, einen Haufen Jungs im Stimmbruch, eine Hupe und das sinnliche Quietschen von Fingernägeln auf einer Schiefertafel gemeinsam Last Christmas singen zu lassen.
Lyria-Mara Orbrek fuhr auf der Anderen Straßenseite an mir vorbei. Bzw. fuhr sie nicht, sie schlingerte eher um einen neben ihr her rennenden Mann mittleren Alters herum, der wütend etwas von Fußgängerwegen brüllte und versuchte, sie von ihrem Rad zu schubsen, während hinter ihm eine Frau mit Rollator mit erhobener Faust etwas von Enkelschutzgesetzen krächzte.
Lyria-Mara, die von uns meist einfach Ly(ss) genannt wurde, war ein absoluter Prototyp von dem, was sich die Gesellschaft unter „woke“ vorstellte. Sie selbst bezeichnete sich gerne als „Links-grün-Versiffte“. Dazu zählte unter anderen, dass sie:
1. Egal bei welchem Wetter immer mit dem 30-Jahre alten Erst-Fahrrad ihrer Mutter zur Schule fuhr,
2. Regelmäßig kostenlos und ohne von den Besitzern gewollt mit Bildern von brennenden Wäldern, Toten Tieren und ähnlichem Werbung für den Bioladen vor der Schule machte,
3. Sich vegan ernährte, jedoch die Eier von den Hühnern ihres Onkels (die einen Ultra-Bio-Freiland-Bauernhof hatte) verwendete,
4. NUR nachhaltig produzierte Second-Hand Kleidung, Möbel, Hefter etc. nutzte,
5. Die 12-Klässler verbal zur Rechenschaft zog, wenn diese,auch nur darüber redeten, dass sie zum Abi/Geburtstag ein Auto haben wollen könnten.
6. Immer eine Lösung für die Probleme der Menschheit hatte
7. sowie sich ab und zu mal zu einer Sitzblockade mit anderen Schülern zusammenraufte, um gegen Tierleid, für Religiongleichheit (bzw. die komplette Neuordung des Fachs „Religion“) und Solarpaneele auf dem Schuldach zu demonstrieren.
Ansonsten war sie aber normal und eigentlich ziemlich nett.